Kurdische Kultur – Wie wir uns kleiden

Die kurdische Kleidung gibt es nicht – und trotzdem ist kurdische Kleidung schnell politisch, steht für Identität, Widerstand, Emanzipation, Tradition und Moderne. Die verschiedenen Bedeutungen verdeutlicht am Beispiel einer Hose und eines Hemds.

Von Ronya Othmann, Journalistin; Foto: Kamal Sido, GfbV

Wie wir uns kleiden, sagt immer etwas über uns aus: Welchen Beruf wir ausüben. Zu welcher sozialen Klasse wir gehören. Welche Religion wir praktizieren und wie wir sie praktizieren. Welche politische Haltung wir vertreten. Wer und wie wir sein wollen – oder zumindest für wen wir gehalten werden wollen. Und wo wir uns zugehörig sehen. Mode unterliegt einem stetigen Bedeutungswandel. Was vor dreißig Jahren provokant war, ist es heute längst nicht mehr. Was einmal Arbeitskleidung war, wird Folklore.

Mit kurdischer Kleidung ist es nicht anders. Und auch bei kurdischer Kleidung muss man genauer hinsehen. Die „kurdische Kleidung“ gibt es nicht. Sie unterscheidet sich je nach Anlass, Zeit, religiöser Prägung oder Region, in der wir uns befinden.

Nehmen wir das Beispiel şal û şapik, was übersetzt einfach Hose und Hemd heißt: şal û şapik setzt sich zusammen aus einer weiten Hose (meist Baumwolle), einem sehr langen Schal, der um den Bauch gebunden wird, und wahlweise in Kombination eine Weste, eine Jacke oder ein Hemd. Je nach Ausführung kann şal û şapik sehr elegant oder einfache und arbeitstaugliche Alltagskleidung sein.

Männer trugen şal û şapik zu offiziellen Anlässen, auf dem Feld, oder wenn sie in der nächstgelegenen Stadt Handel trieben. şal û şapik hatte also lange Zeit weder eine politische, noch folkloristische Bedeutung. Man sieht die Kleidung auch heute noch täglich, vor allem von älteren Männern und vor allem in ländlichen Regionen Kurdistans getragen.

Eine durch und durch politische Kleidung wurde şal û şapik 1945, als sie vom türkischen Staat mit der Begründung „kurdische Nationaltracht“ verboten wurde. Dem Bekleidungsverbot folgten noch viele weitere antikurdische Maßnahmen wie das Verbot der Sprache und der kurdischen Farben Rot, Grün und Gelb. Kurd*in sein, wurde unter Strafe gestellt. Das şal û şapik-Verbot reiht sich ein in eine lange Geschichte gewaltsamer Assimilierungspolitik, die bis heute von der türkischen Regierung fortgeführt wird.

Auch von den kurdischen Kämpfer*innen wurde şal û şapik getragen: bei der PKK [„Arbeiterpartei Kurdistans“; militante Untergrundorganisation; unterliegt in Deutschland seit 1993 einem Betätigungsverbot; Anm. d. Red.] ebenso wie bei den Peschmerga, den Streitkräften der Autonomen Region Kurdistans. Die kampftaugliche Ausführung şal û şapiks ist in den Farben Olivegrün, Ocker, Grau oder Braun gehalten. Gleichzeitig ist şal û şapik praktisch. Man kann sich gut darin bewegen. Die Kleidung ist bequem, flexibel, kann den Jahreszeiten angepasst werden und hat sich als Alltagskleidung sowieso schon lange bewährt – şal û şapik als Symbol einer kurdischen Identität.

Tradition trifft Mode(rne)

Bis heute hat şal û şapik seine zahlreichen Bedeutungsebenen nicht verloren. Immer noch ist es Alltagskleidung, ist es Festtagskleidung und wird auf politischen Veranstaltungen, bei Demonstrationen oder zum Beispiel dem alljährlichen Neujahrsfest Newroz im März getragen. Außerdem ist es Folklore. Jede kurdische Govend-Tanzgruppe [„Govend“ ist ein Volkstanz; Anm. d. Red.] ist damit ausgestattet.

Modeinteressierte junge Kurd*innen in der Diaspora versuchen den Spagat: Sie kombinieren şal û şapik mit ausgefallenen Sneakern. Sie tragen kurdischen Kopfschmuck zu Adidas-Jogginghosen und Sonnenbrillen von Zara, Weekday und Co. Sie mixen traditionelle kurdische Kleidung mit dem, was bei urbanen, hippen Millennials gerade angesagt ist. Damit bringen sie ihre hybride Identität zum Ausdruck.

Auch für sie ist kurdische Kleidung ein Ausdruck einer politischen Haltung. Um ihre Hälse baumeln Anhänger mit dem Schriftzug „Azadi“ (dt.: „Freiheit“), die Smartphone-Hüllen leuchten in den kurdischen Farben. Als kurdische Trendsetterinnen zu nennen sind hierbei die in Los Angeles lebende und arbeitende Schmuckdesignerin Sayran Barzani oder die in Finnland aufgewachsene Sängerin Helly Luv. Luvs Song „Revolution“ über den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) wurde 2015 weltberühmt – ebenso wie das Outfit, das sie in dem Video trägt: şal û şapik, goldene High Heels und ein Patronengürtel um den Bauch.

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Text: Ein Standbild aus dem Musikvideo „Revolution“: Die kurdische Sängerin Helly Luv thematisiert den Kampf gegen den IS – und trägt dabei die traditionell Männern vorbehaltene Kleidung şal û şapik.
Foto: © Screenshot: Helly Luv/ YouTube

Helly Luv als kurdische Frau stellt in diesem Video auch eine Antithese zu der Frau beim IS dar, denn im Kalifat waren diese gezwungen, Gesicht und Körper unter einem langen schwarzen Gewand zu verstecken. Der Niqab (ein Gesichtsschleier) radiert jegliche Individualität aus. Es ist ein Kleidungsstück, das man fast nicht als solches bezeichnen kann, denn es tut nicht das, was Kleidungsstücke gewöhnlich tun: Es kleidet nicht, es verhüllt. Ein Stück Anti-Mode.

Eine kurdische Frau, die şal û şapik trägt, Kleidung, die traditionell Männern vorbehalten ist, tut dies vielleicht als Kämpferin, weil es sich im Kleid schlecht kämpfen lässt; oder sie tut es als Demonstrantin, die damit ihre kurdische Identität zum Ausdruck bringt; oder sie trägt şal û şapik schlichtweg als Akt der Emanzipation.

Über die Autorin

Ronya Othmann ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Kernthemen sind unter anderem die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten, der Genozid an den Yezid*innen, kurdische Themen und Rassismus. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2020 erschien ihr Debütroman „Die Sommer“.

Der Artikel erschien in unserer Zeitschrift Für Vielfalt Ausgabe 01/2021

Ein Gedanke zu “Kurdische Kultur – Wie wir uns kleiden


  1. Liebe Carolina, lieber Niels, im Namen aller Kurden☺ danke ich euch. Lasst euch nicht ärgern, weder von Kamal noch von anderen komischen☺ Kurden.
    Liebe Grüße
    Kamal

    Mit herzlichen Grüßen

    Dr. Kamal Sido
    Referent für ethnische, religiöse, sprachliche Minderheiten und Nationalitäten

    Fon +49 (0) 551 49906-18
    K.Sido@gfbv.de
    ________________________________
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