Hoffnung für Verfolgte der Gülen-Bewegung (Türkei)

Etappenerfolg bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Von Jasna Causevic, GfbV-Referentin für Genozidprävention & Schutzverantwortung, und Lois Richmann, Praktikant im genannten Referat; Foto: GfbV-Archiv

Harun Ayvaz
Harun Ayvaz ist türkischer Staatsbürger. Er war bis 2016 als Verwalter einer Schule und eines Studierendenwohnheims tätig. Beide Einrichtungen werden in der Türkei in Verbindung mit der Gülen-Bewegung gebracht. Am 10. März 2016 wurde Ayvaz nach einer Festnahme zunächst von den Justizbehörden der Türkei wieder entlassen. Jedoch leitete die Staatsanwaltschaft der Republik Türkei zur gleichen Zeit ein Strafverfahren gegen die Schule und ihre Mitarbeiter*innen wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Terrorismusfinanzierung ein. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde das Studierendenwohnheim daraufhin illegal von türkischen Behörden besetzt. Die meisten Mitarbeiter*innen von Ayvaz wurden festgenommen und im Anschluss zu sechs bis zwölf Jahren Gefängnishaft verurteilt ( u.a. der Generaldirektor, Buchhalter und Hauptmanager des Studierendenwohnheims). Auf der Flucht vor den türkischen Behörden wurde Ayvaz am 16. September 2019, als er versuchte mit einem ungültigen Pass einzureisen, in Bijelo Polje (Montenegro) festgenommen. Die Türkei hat seitdem seine Auslieferung beantragt. Sie beschuldigt ihn, ohne konkrete Beweise für seine Aktivitäten vorzulegen, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein.

Drohende Abschiebung aus Montenegro

Bisher wurde dreimal die Auslieferung von Ayvaz an die Türkei durch Entscheide der lokal zuständigen Gerichte, das Oberste Gericht in Bijelo Polje sowie das Berufungsgericht von Montenegro, angeordnet. Alle drei Beschlüsse wurden jedoch Dank einer historischen Entscheidung seitens des Verfassungsgerichts von Montenegro außer Kraft gesetzt, sodass der Fall an die erste Instanz zurückgeleitet wurde.
Das Verfassungsgericht, so der montenegrinische Anwalt von Ayvaz, Dalibor Tomovic, kam zweimal zu dem Entschluss, dass die Auslieferung von Ayvaz gegen das Non-Refoulement Prinzip verstoße und stellte somit die Rechtsstaatlichkeit über die Politik. Das Non-Refoulement Prinzip, welches sowohl im internationalen Recht als auch in der montenegrinischen Verfassung verankert ist, verbietet die Auslieferung, Ausweisung oder Zurückschiebung einer Person in ein anderes Land, falls ernsthafte Gründe zur Annahme vorliegen, dass für die betreffende Person im Zielland ein Risiko von Folter bzw. unmenschlicher Behandlung oder einer anderen schweren Menschenrechtsverletzung besteht. Das Verfassungsgericht bezieht die Position, dass Ayvaz bei einer Auslieferung in der Türkei Folter und Misshandlung erfahren würde, eine Auslieferung verstoße demnach auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 3).

Asylverfahren in Montenegro und Beschwerde bei dem EGMR

Harun Ayvaz hat inzwischen in Montenegro Asyl beantragt, welches ihm jedoch verweigert wurde, weshalb er nun ein laufendes Gerichtsverfahren eingeleitet hat.
Hinsichtlich der Gefahr, dass staatliche Institutionen Montenegros (Gerichte, Ministerien etc.) womöglich die Entscheidung des Verfassungsgerichts von Montenegro ignorieren und Ayvaz dennoch an die Türkei ausliefern könnten, wandte dieser sich mit einer Beschwerde (Application No. 58058/19) an den EGMR, um ein unwiderrufliches Auslieferungsverbot (Rule 39 of the Rules of Court) zu erwirken – mit einem Etappenerfolg!
Der EGMR erließ am 11. März 2020 eine vorläufige Maßnahme gegenüber Montenegro, im Rahmen derer Montenegro dazu aufgefordert ist, die Auslieferung von Ayvaz bis zum 11. Mai 2020, bzw. bis zur endgültigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auszusetzen.
Bei seiner Entscheidung berücksichtigte der EGMR die Menschenrechtssituation in der Türkei und verwies im Zuge dessen auf die Berichte von Amnesty International über die Menschenrechtssituation in der Türkei, die Entschließung des Europäischen Parlaments sowie auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Juan E. Méndez über Folter (Special Rapporteur on Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, entstanden während seines Besuchs in der Türkei und an den UN-Menschenrechtsrat sowie an die Generalversammlung der Vereinten Nationen übermittelt worden).
Dalibor Tomovic, der engagierte Anwalt von Harun Ayvaz, gibt in einem Kommentar für die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) an, dass er davon ausgeht, dass die zuständigen Gerichte in Montenegro die Position des Verfassungsgerichts von Montenegro akzeptieren und im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Auslieferung von Ayvaz aussetzen sowie nicht gegen die Verfassung von Montenegro und nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen werden. In diesem Fall würde Montenegro seinen Beitrag zur Festigung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa leisten und zum Vorbild nicht nur für die Staaten Südosteuropas werden.


* Def. nach dem Council of Europe: „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, engl.:European Court of Human Rights (ECHR))wurde 1959 in Straßburg von den Mitgliedstaaten des Europarats errichtet, um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherzustellen. Diese wurde 1950 unterzeichnet. Der EGMR urteilt über Beschwerden einzelner Personen sowie Personengruppen und Staaten, die sich auf Verletzungen der in der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannten Rechte beziehen. Seit 1998 ist der EGMR ein ständig tagender Gerichtshof. Bürger können sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind, mit Beschwerden direkt an ihn wenden.

Die vom Gerichtshof gefällten Urteile sind für die betroffenen Staaten bindend und haben Regierungen dazu veranlasst ihre Gesetze und ihre Verwaltungspraxis in vielen Bereichen zu ändern. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs macht die Konvention so zu einem lebendigen Instrument, um neuen Herausforderungen zu begegnen sowie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa zu festigen. Das heutige Gebäude des Gerichtshofs in Straßburg wurde 1994 von dem britischen Architekten Lord Richard Rogers entworfen. Von hier aus überwacht der EGMR die Achtung der Menschenrechte von 800 Millionen Menschen, die in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats leben“.                                                                   

Quelle zum Vergleich, zuletzt aufgerufen am 05.05.2020: 

https://www.coe.int/en/web/portal/gerichtshof-fur-menschenrechte.

** Die Gülen-Bewegung stellt eine transnationale religiöse und soziale Bewegung dar, die sich unter der Leitung des islamischen Geistlichen Fethullah Gülen befindet. Die Bewegung setzt sich als multinationale Vereinigung mit mehr als vier Millionen Mitgliedern für Bildung und Leistung ein. Dies erreicht sie zum einen in Form eines weltweit verzweigten Netzwerks an Schulen, zum anderen investiert die Bewegung zahlreich in Medienarbeit, Finanzgeschäfte und Krankenhäuser. Während ihr manche als friedliche moderne Islambewegung positiv gegenüberstehen, kritisieren andere, dass sich hinter der Gülen-Bewegung eine organisierte Sekte mit internationaler Unternehmensstruktur verberge. 

Die Ermittlungsbehörden und staatlichen Stellen in der Türkei beschuldigen Fethullah Gülen und seine Anhänger*innen der Gülen-Bewegung (in der Türkei wird diese als FETÖ /Fethullahçı Terör Örgütü, „Fethullahistische Terrororganisation“/eingestuft), den Putschversuch am 15. Juli 2016 geplant und durchgeführt zu haben. Zudem wird Gülen vorgeworfen den Staatsapparat der Türkei in den Bereichen Polizei, Militär, Justiz und Verwaltung mit seinen Anhänger*innen unterwandern zu wollen. Gülen streitet jegliche Vorwürfe ab. 

Der Putschversuch forderte 250 Menschenleben. Seitdem wurden etwa 77.000 Menschen angeklagt und etwa 130.000 Beamte entlassen oder suspendiert. 695 Haftbefehle (Stand Februar 2020) wurden von der türkischen Staatsanwaltschaft gegen Menschen mit mutmaßlichen Verbindungen zur verbotenen Bewegung des Fethullah Gülen erlassen. Die von der Gülen-Bewegung unterstützten Erziehungseinrichtungen wurden geschlossen und deren Mitarbeiter*innen verfolgt. Viele von ihnen flüchteten und bemühen sich zurzeit um Asyl in benachbarten Ländern. Denn sie befürchten in der Türkei, angesichts der erhobenen Vorwürfe der Unterstützung einer „terroristischen Bewegung“, verhaftet und verurteilt zu werden. Auf Druck der Türkei hin kam es inzwischen zu Abschiebungen von geflüchteten Anhänger*innen der Gülen-Bewegung aus einigen europäischen Ländern. 

Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtet, dass bisher etwa 160 Personen festgenommen wurden. Unter den Beschuldigten seien unter anderem Angehörige des Militärs, der Justiz und der Polizei. Erdoğan bezeichnet die Vorgehensweise als notwendige Maßnahme, um der mutmaßlichen Bedrohung der Sicherheit des Landes entgegenzuwirken. Die Europäische Union und Menschenrechtsorganisationen hingegen kritisieren das massive Vorgehen scharf. 

Quelle zum Vergleich, zuletzt aufgerufen am 05.05.2020: 

https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-02/fethullah-guelen-bewegung-tuerkei-haftbefehle.

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