Freiheit für den „kurdischen Obama“

Selahattin Demirtas wird oft als „kurdischer Obama“ betitelt. Nun trifft sein Bruder Süleyman bei der GfbV auf Thomas Oppermann, Vizepräsident des Bundestags.

Foto: Niels Keilhack/ GfbV 2019

Wenn Süleyman Demirtas am 03. September 2019 im Veranstaltungssaal der Gesellschaft für bedrohte Völker empfangen wird, wird sein Bruder gerade in seine Hochsicherheitszelle in Edirne zurückgekehrt sein. Am Tag zuvor findet nämlich seine Anhörung bezüglich der ihm vorgeworfenen über 100 Fälle der Terrorpropaganda statt. Selahattin Demirtas wurde am 03. November 2016 gemeinsam mit Figen Yüksekdag festgenommen. Die Festnahmen der beiden Vorsitzenden der türkischen Oppositionspartei HDP fanden außerhalb sämtlicher rechtlicher Rahmen und humanitärer Standards statt. So bestand die Anklage aus Informationen abgehörter Telefongespräche, die ohne Aufhebung ihrer Immunität als Abgeordnete des türkischen Parlaments stattfanden. Die nun fast drei Jahre in Untersuchungshaft übersteigen jegliches Maß. Es wird ein vom türkischen Präsidenten Erdogan inszenierter Schauprozess zur Abschreckung politischer Gegner erwartet.

Ein neuer Wind weht durch Anatolien

Der Ort seiner Internierung, die er in Gesellschaft weiterer angeblicher Terroristen verbringt, ist nicht zufällig gewählt. Der ehemalige Vorsitzende der momentan progressivsten Kraft der türkischen Politik „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) soll in der Stadt Edirne, nahe des bulgarisch-griechischen Länderecks, möglichst weit vom aktuell größten Brandherd der Türkei ferngehalten werden – Kurdistan. Wie die Gesellschaft für bedrohte Völker feststellte, brennt Kurdistan. Der schon lange schwelende Konflikt um das weltweit größte Volk ohne eigenen Staat erreicht in diesem Jahrzehnt neue Eskalationsstufen. Der Einsatz des türkischen Militärs 2015/16 gegen aufständische Kurden zerstörte 80% der historischen Altstadt Diyarbakirs, der „heimlichen Hauptstadt“ Nordkurdistans. Seit Recep Tayyip Erdogans islamistisch-nationalistischer Wende weht ein neuer Wind durch Anatolien. Konnten zur Jahrtausendwende noch Annäherungsversuche im Kurdenkonflikt beobachtet werden, wie etwa der Abkehr der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) von separatistischen Forderungen und der Aufhebung des Sprachverbots seitens der türkischen Regierung, stehen die Zeichen nun auf Konfrontationskurs. Mit dem Überschreiten der 10%-Hürde bei den türkischen Parlamentswahlen 2018 sitzt die HDP als erste pro-kurdische Partei im türkischen Parlament. Die diesjährigen Kommunalwahlen setzten die türkische Regierungspartei für AKP weiter unter Druck. Sie verlor ihre Bürgermeisterposten unter anderem in den Großstädten Antalya, Ankara und Istanbul. Als Reaktion hierauf wurden die von der HDP gestellten, demokratisch gewählten Bürgermeister der Städte Diyarbakir, Mardin und Van ihres Amtes enthoben.

Erdogan unter Druck

Bild: Paul Morigi Photography via Flickr

Die politische Misere seiner Partei wälzt der türkische Präsident Erdogan auf den Minderheiten seines Landes ab. Er schürt Ressentiments und baut anders und kritisch denkende Menschen zu nationalen Feindbildern auf. Die HDP, von denen inzwischen über zehn Politikerinnen und Politiker inhaftiert wurden, stellt sich nicht nur entlang der Konfliktlinien Ethnien und Sprachen der Politik Erdogans entgegen. Auch steht sie mit ihren kapitalismuskritischen Forderungen der wirtschaftsliberalen Regierung entgegen. Bis auf ihr Charisma und ihr Einstehen für nationale Minderheiten haben Demirtas und Obama wenig gemeinsam, sie stehen im politischen Spektrum auf zwei verschiedenen Seiten. Dennoch sind Demirtas und die HDP ein Hoffnungsschimmer für die Menschen in der Türkei, die sich nach nationaler Aussöhnung und sozialem Frieden sehnen.

Bild: GfbV 2019

Demirtas‘ Inhaftierung ist ein weiterer Akt Erdogans, den türkischen Rechtsstaat auszuhebeln. Der Hexenjagd auf die Mitglieder der Bewegung Fethullah Gülens, der Repressalien gegenüber Presse und Wissenschaft folgte die Verfolgung der parteipolitischen Opposition. Während der Fall Demirtas weiterhin läuft, plädiert die türkische Justiz auf eine Haftstrafe von 142 Jahren. Am 20. November 2018 schaltete sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGH) ein und forderte die seine Freilassung. Die Dauer Demirtas‘ Untersuchungshaft entbehre jeglicher Angemessenheit und sei, nach mittlerweile drei Jahren, nicht mehr zu rechtfertigen. Zwar bestätigten türkische Gerichte das Urteil binnen weniger Tage erneut, dennoch legte Demirtas am 04. Dezember 2018 Revision ein. Währenddessen läuft über die Sozialen Medien eine Kampagne unter dem Hashtag #FreeDemirtas zur Entlassung des Politikers und zur Wahrung der Menschenrechte in der Türkei. Seine kommenden Anhörungen am 02. und am 19. September 2019 vor dem EMGH werden mit Spannung erwartet. Sie werden mit Sicherheit einigen Raum beim Besuch seines Bruders Süleyman und des Vizepräsidenten des Bundestages Thomas Oppermann bei der Gesellschaft für bedrohte Völker einnehmen.

Die deutsche Außenpolitik muss in Menschenrechtsfragen glaubwürdiger werden

Bild: via Twitter

Nicht nur in der Türkei ist die Lage der Kurden angespannt: Die türkische Militäroffensive „Operation Olivenzweig“ endete 2018 mit der Besetzung der mehrheitlich von Kurden bewohnten syrischen Region Afrin. Dass der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu zeitgleich in seinem Goslarer Privathaus zum Tee empfing und Waffenlieferungen im Wert mehrerer Millionen Euro genehmigte, war eine der dunkelsten Stunden der deutschen Nachkriegsdiplomatie. Von der ehemals zu über 90% von Kurden bewohnten Region wurden 60% der Kurden vertrieben. Die türkische Regierung verfolgt eine Zerschlagung kurdischer Kräfte entlang des syrischen Grenzgebietes und siedelt nun Turkmenen und Araber dort an. Für die Region der mehrheitlich kurdischen Selbstverwaltungszone in Nordsyrien „Rojava“ fordert die Türkei eine sogenannte „Sicherheitszone“ und begann mit dem Bau einer Mauer mitten durch Kurdistan. Die Türkei errichtete die Mauer auf syrischem Boden und konnte ihr Territorium so auf 900 Kilometern auf über 150 Meter erweitern. Es wird vermutet, dass die Mauer mit automatischen Schussanlagen ausgestattet sei. Regelmäßig wird von Todesopfern entlang der Grenze berichtet. Die kurdischen Bauern wurden ihrer Felder beraubt. Den Zutritt auf ihr Land bezahlen sie mit ihrem Leben. Trennten die Kurden Syriens und der Türkei bisher nur Grenzposten, sind Familien inzwischen komplett voneinander abgeschottet. Ihre bereits vor über 100 Jahren durch das Sykes-Picot Abkommen geteilte Heimat wird in ihrer Trennung durch den türkischen Mauerbau verfestigt. Die Türkei verübt Gräueltaten gegenüber Kurden über ihr eigenes Staatsgebiet hinaus – die Bundesrepublik darf das nicht finanzieren. Dass der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion der GfbV-Veranstaltung mit Süleyman Demirtas beiwohnt, ist ein wichtiges Signal für die Kurden, von denen auch schätzungsweise 1,6 Millionen in Deutschland leben. Mit Thomas Oppermann ist die Hoffnung verbunden, dass die SPD glaubwürdiger in Menschrechtsfragen wird und endlich Vernunft in die Türkeipolitik des von ihr geführten Außenministeriums einkehrt.

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