„Es liegt fast ein tödliches Schweigen über der Stadt“

Die SPD-Politikerin Heidi Merk war im Februar 2017 in Diyarbakir. Die Stadt, in die sie sich in den 1990er Jahren schon verliebt hat, ist kaum wiederzuerkennen. Der Belagerungszustand lähmt die Bevölkerung. Gleichzeitig sind die Oberbürgermeisterin von Diyarbakir und ihr Amtskollege, der stellvertretende Bürgermeister Firat Anli, seit Oktober 2016 in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen unter anderem die Mitgliedschaft und Unterstützung der Terrororganisation PKK vor. Während ihres Besuches beobachtete Heidi Merk deswegen auch für einen Tag den Prozess gegen Firat Anli. Unser Nahostreferent hat mit ihr über ihre Erfahrungen gesprochen.

Foto: Bertilvidet-coomonswiki via Wikimedia Commons

Kamal Sido: Welchen Eindruck haben Sie von dem Prozess gegen Firat Anli gewonnen?

Heidi Merk: Mit dem Ausnahmezustand, der in der Türkei verhängt wurde, ist gleichzeitig fast das gesamte Prozessrecht auf ein Minimum reduziert worden. Für den Prozess von Firat Anli bedeutet das, dass alles, was bisher noch im Prozess galt, fast vollständig außer Kraft gesetzt ist.

KS: Können denn die Anwälte, die ihre Mandanten verteidigen, ihre Arbeit ungestört ausüben?

Merk: Die Anwälte haben natürlich noch das Verteidigungsrecht. Aber im Prozess gegen Firat Anli gibt es viele Hindernisse. Es ist schon höchst ungewöhnlich, dass man einen Hauptangeklagten in einer anderen Stadt mit einer Videoanlage ausrüstet und der Arme dann nur durch diese Videoübertragung in den Gerichtssaal an seinem Prozess teilnehmen kann. Die Technik ist in der Türkei, jedenfalls in diesem Verfahren, so miserabel gewesen, dass er immer wieder unterbrochen wurde. Das stellt für den Angeklagten natürlich ein riesiges Problem dar. Und es erschwert die Beurteilung durch die Richter. Wenn er durch diese technischen Mängel seine Antworten nicht richtig vortragen und auch auf Fragen nicht gleich antworten kann, ist das für einen Prozess ein riesiges Problem. Am Tag, als ich im Gerichtssaal war, ist seine Übertragung sogar teilweise vollständig ausgefallen. In diesem Prozess gibt es insgesamt 51 Angeklagte. Anli muss also die Möglichkeit bekommen, auch den anderen Teilen des Prozesses zu folgen. Das war aber nicht möglich, weil die Videoübertragung über zwei Stunden ausfiel. Zudem gab es ein ständiges Durcheinander zwischen den Angeklagten. Der Richter verwechselte zum Teil sogar die Angeklagten, weil er gar nicht vorbereitet war, denn der Hauptrichter, also der vorsitzende Richter, war nicht gekommen. Dadurch hatte der Prozesstag auch mit Verspätung begonnen.

KS: Der Prozess findet in Diyarbakir statt. Wie haben Sie dort die Stimmung in der Bevölkerung empfunden?

Merk: Die Stadt ist in einem Depressionszustand. Ich kenne Diyarbakir sehr gut, da ich seit 1992 immer wieder dort war. Ich liebe diese Stadt sehr und auch ihre Bürger. Es ist unglaublich, wie ängstlich und wie still sie jetzt ist. Es liegt fast ein tödliches Schweigen über ihr. Dieser extreme Belagerungszustand ist überall zu spüren. Es ist ja ein Teil der Stadt nicht nur kaputt gemacht, sondern eingemauert worden. Aber auch alle paar Meter stehen irgendwelche bewaffneten Einheiten oder Panzer. Ich kenn‘ mich da nicht so genau aus, aber es gab alle möglichen Verteidigungsgeräte und schwerbewaffnete Menschen. Man schleicht überall nur leise vorbei.

Diese Stimmung überträgt sich natürlich auf diejenigen, die dem Prozess folgen. Man ist auch da natürlich sehr diszipliniert und still. Das ist auch normal im Verfahren. Aber es war gar nicht genügend Platz für alle Zuhörerinnen und Zuhörer. Schließlich gab es in dem Verfahren 51 Angeklagte und deren Verwandte, zum Teil weit vom Land gekommene, alte Frauen und Männer, wollten alle den Prozess vor Ort verfolgen.

Oft ging es an dem Tag im Gerichtsaal durcheinander. Man wusste als Zuhörer auch nie ganz genau, was geht denn jetzt wieder ab, was läuft jetzt gerade. Also ein durchaus schwieriges Verfahren. Und nur ein einziger von diesen 51 Angeklagten, der in Haft war, wurde freigelassen. Da sah man am Schluss ein kleines Häuflein von Familienmitgliedern, die applaudierten.

KS: Da sind Bürgermeister, gewählte Volksvertreter im Gefängnis. Viele fragen sich deshalb, was wir hier in Deutschland tun können. Was können die Bürgermeister, die Städte für ihre Kollegen und Kolleginnen in der Türkei tun?

Merk: Die inhaftierten Politikerinnen und Politiker brauchen ein großes Maß an Solidarität und Zustimmung. Das kann man natürlich herstellen, wenn man sich vorstellen würde, in Deutschland, beispielsweise in Bayern, würden die Bürgermeister alle verhaftet werden. Dann würden sich sicherlich andere Bürgermeister engagieren und darum bitten, dass ein faires Verfahren stattfindet und, dass vor allem die Rechte der Betroffenen gewahrt werden. Was in diesem Fall die Freilassung wäre. Und die Bürger können natürlich genau das Gleiche machen. Man braucht keinen Titel, um sich für andere Menschen einzusetzen. Das Entscheidende ist, dass man engagiert ist. Das kann man durch Freundeskreise oder Solidaritätsbekundungen verschiedenster Art machen. Je mehr Menschen sich organisieren, desto besser ist es für die Betroffenen. Einmal seelisch und moralisch, aber auch mit der Chance, dass eine Regierung bemerkt, in Deutschland bewegt sich etwas zu Gunsten der Betroffenen.

KS: Ich bin in Syrien geboren. Die Probleme in Syrien wurden nicht gelöst und jetzt haben wir einen schrecklichen Bürgerkrieg. Was können wir in der Türkei befürchten, wenn die Probleme nicht politisch, friedlich gelöst werden?

Merk: Die Spannungen, die in der Türkei deutlich spürbar sind, vor allem zwischen Parteien aber eben auch verschiedenen Bevölkerungsteilen, sind gefährlich. Wirtschaftlich ist die Türkei immer mehr im Abstieg begriffen, das wundert einen nicht. Aber sie wird natürlich auch politisch gespalten bleiben, und zwar so, dass die Gefahr besteht, dass dieses Land in einen Krieg hineinkommt.

Für uns hier in Deutschland bedeutet das, dass wir auch hier dafür Sorge tragen müssen, dass solche Auseinandersetzungen nicht noch zu uns kommen. Teilweise sind die Ängste der türkischen Bürger, die anders denken, schon deutlich spürbar.

KS: Frau Merkel hat mit dem sogenannten Flüchtlingsdeal mit der Türkei verhindern wollen, dass weitere Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Gleichzeitig haben aber hunderte türkische Diplomaten und Militärs Asyl beantragt. Was sagen Sie dazu?

Merk: Ich kann mich nur amüsieren. Ich habe von Anfang an nicht an dieses Flüchtlingsabkommen geglaubt. Deutschland hätte sagen sollen, dass sie der Türkei Hilfe zahlt, weil das Land eben auch sehr viel für die Flüchtlinge leistet. Daran besteht ja kein Zweifel. Das Gleiche hätte dann auch für andere Länder wie Italien gegolten. Aber Geld zu geben, um Flüchtlinge abzuhalten, halte ich für falsch. Richtig ist allerdings, dass man den Schleppern, die für viel Geld das Leben anderer aufs Spiel setzen, das Handwerk legt. Aber dafür braucht man nicht unbedingt eine riesen Vereinbarung mit der Türkei.

Frau Merkel hat diesen Vertrag aber nicht allein gemacht. Es ist ein Abkommen zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Interessant ist für mich nur, dass Frau Merkel die einzige ist, die ständig Angst hat um dieses Thema. Die anderen EU-Regierungschefs sind offensichtlich nicht dazu in der Lage, zu Erdogan zu gehen, um ihm dies zu sagen.

KS: Letzte Frage: Was sollten die Kurden, Yeziden, Chaldäer, Aramäer, Assyrer, Armenier und Aleviten in der Türkei und hier tun?

Merk: Sie sollen sich erstmal tolerieren und verstehen. Man kann nicht gewinnen, niemals, in keinem Land der Welt, wenn man aus einem Land kommt und sich dann gegenseitig bekämpft. Man kann allerdings sehr viel für sich gewinnen, wenn man sich gegenseitig respektiert und sogar kennenlernt. Jede Religion und jede Kultur bringt so viel Neues mit, was man vielleicht vorher gar nicht kannte. Sie alle können nur davon profitieren. Und deshalb glaube ich, dass sie sich zusammenschließen sollten. Sie sollten sich gemeinsam dafür engagieren, dass die Türkei wieder Frieden findet und dass die Gefangenen, die vielen politischen Gefangenen, endlich wieder in Freiheit gelangen.

KS: Vielen Dank für das Gespräch.


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HEIDI MERK ist SPD-Politikerin. Sie war von 1990 bis 1996 niedersächsische Justizministerin, anschließend von 1996 bis 1998 niedersächsische Ministerin für Justiz und Europaangelegenheiten und von 1998 bis 2000 niedersächsische Ministerin für Frauen, Arbeit und Soziales sowie stellvertretende Ministerpräsidentin Niedersachsens. Heidi Merk gehörte/gehört unter anderem der Gewerkschaft ver.di, der Arbeiterwohlfahrt, amnesty international, dem Internationalen Verein für Menschenrechte in Kurdistan e.V., dem Verein zum Schutz misshandelter Frauen und Kinder an. Sie war mehrere Jahre Mitglied des Bundesvorstandes von amnesty international und ist die Vorsitzende der deutsch-spanischen Gesellschaft Niedersachsens.

KAMAL SIDO ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker.

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