Friedensvertrag in Kolumbien: Neuanfang für indigene Gemeinschaften?

6,4 Millionen Kolumbianer haben Anfang Oktober 2016 gegen den Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Farc gestimmt. 6,3 Millionen dafür. Das Land verfiel in eine Schockstarre. Wie sollte es jetzt weitergehen? Besonders indigene Gemeinschaften hatten sich den Frieden gewünscht, da der Konflikt vor allem in ihren Gebieten ausgetragen wurde. Noch bleibt ihnen ein letztes bisschen Hoffnung.

von Giulietta Corti; Foto: pixabay.com

Die Plaza de Bolivar im Zentrum Bogotás glich am 12. Oktober einem Ameisenhaufen. 50.000 Menschen gingen auf die Straße, um die Regierung und die Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc) dazu zu bewegen, die Friedensverhandlungen weiterzuführen. Aufgerufen zu diesem Friedensmarsch hatten der Dachverband der indigenen Organisationen Kolumbiens ONIC (Organisación Nacional Indígena de Colombia) sowie weitere indigene und politische Gruppierungen. Das Datum der Demonstration war nicht zufällig gewählt: der 12. Oktober ist der Tag des indigenen Widerstands. Das nicht-indigene Amerika feiert an diesem Tag den Kolumbustag, also die Landung von Christoph Kolumbus.

Der Marsch tausender Indigener durch die Straßen von Bogotá verwandelte sich in einen farbigen Umzug, der die Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich zog. Sie begrüßten die Demonstranten und unterstützten diese mit Zurufen. Menschen aus allen sozialen Schichten und Ethnien schlossen sich dem Umzug an. Viele trugen Banner oder riefen Sprüche wie „Para que florezca la paz, acuerdo ya“ (dt. Damit der Friede erblüht, ein sofortiges Abkommen.)

Zehn Tage zuvor, am 2. Oktober 2016, hatte eine knappe Mehrheit von 50,2 Prozent der Wähler das Friedensabkommen zwischen der Farc und der kolumbianischen Regierung in einer Volksabstimmung abgelehnt. Damit hatte niemand gerechnet. Einen Plan B gab es nicht. Das Friedensabkommen sollte den mittlerweile 52-jährigen Guerillakrieg zwischen den Linksrebellen, dem kolumbianischen Militär und den Paramilitärs beenden.

Die Ablehnung bedeutete jedoch nicht, dass sich die kolumbianische Bevölkerung keinen Frieden wünscht. Im Gegenteil. Eine Mehrheit ist sogar dafür, jedoch zu anderen Konditionen. Die Farc-Mitglieder wären bei Annahme des Abkommens straflos davon gekommen, obwohl sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Zudem wäre den Rebellen für acht Jahre eine politische Mitbestimmung durch Garantiemandate im Senat zugesprochen worden. Die Gegner des Abkommens sehen darin eine Gefahr. Die Umwandlung einer revolutionären Streitkraft in eine politische Partei scheint ihnen nicht rechtens. Zudem wollen viele Menschen die Farc bestraft sehen; eine Amnestie zu Gunsten der Guerrilla kommt für sie nicht in Frage.

Über 50.000 Menschen, darunter auch viele indigene Aktivisten, protestierten am 12. Oktober in der Hauptstadt Kolumbiens lautstark für den Frieden. Sie zeigten mit dem Protest ihrer Erschütterung darüber, dass eine knappe Mehrheit der Bevölkerung wenige Tage vorher gegen das Friedensabkommen gestimmt hatte.

Embed from Getty Images

Foto: AFP/GUILLERMO LEGARIA

Seit dem Rückzug der Farc aus den urbanen Gebieten fand der bewaffnete Konflikt vor allem in den ländlichen Regionen Kolumbiens statt, so zum Beispiel in der Provinz Cauca im Südwesten des Landes, eine der Provinzen, die den höchsten Anteil an indigener Bevölkerung in Kolumbien hat. Es sind also die in diesen Gebieten wohnhaften indigenen und afro-kolumbianische Gemeinschaften, die vor allem unter dem militärischen Konflikt litten. Über 7.700 indigene Menschen starben, hunderttausende wurden aus ihrer Region vertrieben. Dies trug dazu bei, dass 32 der indigenen Gemeinschaften Kolumbiens mittlerweile vom Aussterben bedroht sind. Falls die erneuten Verhandlungen für ein Friedensabkommen bis Weihnachten also ohne Ergebnis beendet werden sollten, würden sie sich erneut im Kreuzfeuer der beteiligten Kriegsparteien befinden. Es steht also nicht weniger als ihre Existenz auf dem Spiel – eine Gefahr, gegen die sie seit über 50 Jahren kämpfen.

Seit den 1960er Jahren haben ländliche indigene und afro-kolumbianischen Gemeinschaften ihr Land an reiche Großgrundbesitzer, lokale Regierungen, paramilitärische Gruppierungen und multinationale Unternehmen verloren. Gerade in den letzten Jahrzehnten stellten sie deswegen hunderte Anträge, um ihr Land zurück zu erhalten. Bisher blieben die meisten dieser Anträge unbearbeitet. Gemäß kolumbianischer Verfassung sind die Ansprüche auf diese Territorien jedoch rechtmäßig. Die von den Zwangsumsiedlungen Betroffenen erhoffen sich mit einem Friedensvertrag die Chance auf Anerkennung ihrer Eigentumsrechte. Dann müssten Regierung oder Konzerne erst die Zustimmung der indigenen Gemeinden haben, bevor sie Bauprojekte oder andere Vorhaben auf indigenen Gebieten durchführen.

Die indigene Bevölkerung stimmte daher größtenteils für den Friedensvertrag. Sie wollen Frieden und ihre Rechte. Das Abkommen ist für sie nicht eine Kapitulation vor der Farc, sondern eine Chance für einen Neuanfang. Allerdings birgt dieser ebenfalls eine Gefahr: Sollte das Abkommen zustande kommen und akzeptiert werden, würde dort, wo die Guerrilla sich zurückzieht, ein Machtvakuum entstehen. Private Unternehmen könnten dies ausnutzen und sich die ressourcenreichen Ländereien der indigenen Bevölkerung aneignen. Die Sorge ist nicht unberechtigt, wie die vergangenen Jahrzehnte zeigen. Und doch ist die Hoffnung in den indigenen Gemeinden, dass ein Frieden zwischen den verfeindeten Gruppen ihre Landrechte begünstigen könnte, bisher größer.

Noch ist die Zukunft ungewiss. Zwar haben die Farc und die Regierung die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen, jedoch bleibt unklar, wie lange dieser momentane Waffenstillstand aufrechterhalten werden kann. Die Linksrebellen befinden sich momentan in einem Schwebezustand zwischen Kriegsbereitschaft und Demobilisierung. Sollten ihre finanziellen Mittel knapp werden und die moralische Bereitschaft für einen Frieden weiter abnehmen, ist es durchaus denkbar, dass sie die Kriegsaktivitäten doch wieder aufnehmen.

Mehr zur Situation von indigenen Gemeinschaften in Südamerika:

Peru: Aufschwung mit zwei Gesichtern

Brasilien: Eine Stimme der Vernunft im politischen Chaos

Mapuche: Die Leidtragenden erneuerbarer Energien in Chile

 

[Zur Autorin]

GUILIETTA CORTI studierte Internationale Beziehungen an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Im Sommer und Herbst 2012 verbrachte sie einige Monate in Ecuador und arbeitete dort in einer Stiftung für Frauen und Kinder sowie im Regenwald in einer Tierrettungsstation.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen