Warum wird man IS-Kämpfer?

Die Gründe, warum Menschen sich radikalislamistischen Gruppierungen wie dem IS anschließen, sind vielfältig. Denn hinter der religiösen Fassade der Organisation stecken häufig ganz andere Motivationen, sei es politischer, sozialer oder psychologischer Art.

von Christina Thomas; Foto: GfbV-Archiv

Der „Islamische Staat“ (IS) steht kontinuierlich im Rampenlicht. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht von Anschlägen, Enthauptungen oder Kampfhandlungen berichtet wird, die im Zusammenhang mit dem IS stehen. Die Grausamkeit der Radikalislamisten und ihre Art, diese zu legitimieren, rufen nicht selten die Fragen hervor: Wer sind diese Menschen? Mit welcher Motivation greifen sie zu den Waffen und führen Gewaltakte in dieser Vehemenz aus? Was brachte sie dazu, sich einer radikalfundamentalistischen Terrorgruppe anzuschließen?

Wer eine Antwort darauf finden will, darf sich vor allem nicht auf pauschalisierenden Erklärungen ausruhen. Es ist einfach, alle IS-Kämpfer als gefühlskalte Psychopathen darzustellen. Bei näherer Betrachtung des Themas wird jedoch sichtbar, dass die Wirklichkeit deutlich vielschichtiger ist. Tatsächlich ist die personelle Zusammensetzung des IS extrem heterogen, was darauf hinweist, dass sich Motivation und Ziele der Mitglieder sehr unterscheiden.

Der militante Dschihad als religiöse Pflicht

Das von Medien aber auch vom IS selbst geprägte Bild eines Mitglieds der Terrorgruppe ist das eines Kämpfers, der sich aus religiöser Überzeugung angeschlossen hat. Sein Ziel ist die Errichtung eines islamischen Kalifats, so wie es der IS inzwischen offiziell ausgerufen hat. Damit wäre es die Pflicht eines jeden Muslims und einer jeden Muslima, so der IS, sich zu ihnen zu bekennen. Für diese Gruppe von Anhängern ist die radikale Auslegung des Dschihads elementar: Sie sehen sich in der religiösen Pflicht, den Islam weltweit zu verbreiten und jegliche Ungläubige auszulöschen oder zu unterwerfen. Dabei verfügen die meisten von ihnen kaum über fundierte Islamkenntnisse, so die These einiger Wissenschaftler wie beispielsweise der britischen Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong oder des  australischen Soziologen Riaz Hassan. Viele der Anhänger hätten vor ihrer Anwerbung wenig bis gar keine religiöse Bildung erworben. Fundamentalisten fällt es dadurch leichter, diese Menschen zu rekrutieren und zu manipulieren. Fehlendes theologisches Hintergrundwissen macht es kaum möglich, dass diese vorrangig jungen Menschen die Islamauslegung der Anwerber kritisch hinterfragen. Gerade der IS mit seinen ausgezeichneten Überzeugungskünsten und großer Propagandamaschinerie macht sich dies zu Nutzen – er verkauft sich als einzig wahre und richtige Form des Islam und wirbt dadurch Kämpfer an.

Design: Michaela Böttcher für GfbV

Sunnitische Machterweiterung und Rache an den Schiiten

Für eine vermutlich nicht zu unterschätzende Zahl der IS-Mitglieder ist der religiöse Ansatz des IS zweitrangig und dient ihnen höchstens als Fassade und Legitimation für ihr eigentliches Ziel: Sie wollen Macht und Territorium gewinnen. Dabei geht es ihnen nur um den Machtzuwachs der Sunniten. Es ist also der religiöse Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, der eine große politische Rolle bei der Entstehung und dem Erfolg des IS spielt. Als die USA bei ihrer Invasion des Iraks 2003 Saddam Husseins sunnitische Regierung stürzten und seine ebenfalls sunnitisch dominierte Baath-Partei auflösten, waren auf einen Schlag erstklassig ausgebildete Geheimdienstler und Militäreliten der Sunniten ohne berufliche und politische Perspektive. Die anschließend im Irak eingesetzte schiitisch dominierte Regierung, ganz besonders unter der Herrschaft des Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, unterdrückte und verfolgte die sunnitische Bevölkerung im Irak. Für jene entlassenen Eliten der ehemaligen Baath-Partei und die politisch verfolgten sunnitischen Araber in der Bevölkerung stellte der IS eine Option dar, den Sunniten wieder zu mehr Stärke zu verhelfen. Die gnadenlose und grausame Verfolgung und Vernichtung der Schiiten, die der IS betreibt, wird von ihnen teils als „notwendig“, teils als gerechtfertigte Rache oder rein pragmatisch als Ausschaltung politischer Konkurrenz gesehen. Natürlich unterstützen nicht alle Sunniten im Irak den IS und viele sunnitische Araber empfinden das Vorgehen gegen die Schiiten als zu brutal. Doch für jene sunnitischen Araber, die Angst vor einer Stärkung der Schiiten haben, ist der IS das kleinere Übel: Sollte er untergehen, müssten sie eine erneute grausame Rache der Schiiten fürchten.

Armut, Aussichtslosigkeit und islamistisches Umfeld

Einige Journalisten, die zu diesem Thema populärwissenschaftliche Werke veröffentlicht haben, nennen als mögliche Ursache für den Beitritt zum IS ökonomische Anreize. Gerade im Irak sind viele junge Männer von Arbeitslosigkeit, Armut und beruflicher Perspektivlosigkeit betroffen. Da der IS seinen Soldaten Gehalt anbietet, könnte er für diese jungen Männer eine Lösung aus ihrer finanziellen Not darstellen. Fragwürdig ist allerdings, ob dieses Gehalt als hoch genug erachtet werden kann, schließlich setzen junge Menschen dafür auch ihr Leben aufs Spiel, so der Einwand des Islamwissenschaftlers Christoph Günther und der Ökonomin Loretta Napoleoni. Zudem verdienen IS-Kämpfer aus Syrien und dem Irak weniger als ihre Kameraden aus Westeuropa. Es scheint, dass der IS seinen finanziellen Anreiz den „Gehaltsvorstellungen“ der Länder anpasst, was langfristig zu Unmut in den Reihen der rekrutierten Soldaten führen oder sich gar negativ auf die Rekrutierung lokaler Kämpfer auswirken könnte.

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Momentan bietet der IS jedoch noch eine Perspektive und finanzielle Absicherung für diese jungen Menschen, die finanzielle Sicherheit suchen. Wenn dann noch Familie, Freunde und wichtige Bezugspersonen einer radikalen Auslegung des Islams positiv gegenüber stehen, können sie durch den Beitritt zu einer fundamentalistischen Organisation wie dem „Islamischen Staat“ sogar noch soziale Anerkennung erfahren. Denn neben der ökonomischen Motivation treibt auch der Wunsch nach sozialem Aufstieg gerade junge Menschen in die Arme des IS und anderer islamistischer Organisationen.

Fundamentalistische Gewalt als Stifter von Machtgefühl, Sinn und Sicherheit

Natürlich können auch psychische Ursachen einen Menschen zum Fundamentalismus führen. Für verunsicherte Individuen, die besonders kränkende Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben und denen es an Selbstwertgefühl und Lebenssinn mangelt, kann radikaler Fundamentalismus in höchstem Maße sinnstiftend sein. Gerade die Anwendung von Gewalt gibt erniedrigten Individuen ein Gefühl der Macht, eigene Erfahrungen von Machtlosigkeit und Minderwertigkeit werden dadurch kompensiert. Der amerikanische Soziologe und Religionswissenschaftler Mark Juergensmeyer sieht in fundamentalistischer Gewalt überdies die Wiedergewinnung von Männlichkeitsgefühl für junge Männer, die von persönlichen Misserfolgen und sexueller Frustration geplagt sind.

Auch Menschen, die sich angesichts der grenzenlosen Freiheiten der globalisierten Welt geängstigt und überfordert fühlen, können sich zum Fundamentalismus hingezogen fühlen. Denn Fundamentalismus bietet absolute Gewissheit und ein stark vereinfachtes Weltbild: Die Unterteilung der Welt in Gut und Böse verleiht diesen Menschen das Gefühl, auf der „richtigen“ Seite zu stehen und erlöst sie von Zweifel und Ungewissheit. Die Anwerber geben einfache Antworten auf komplexe Themen und klare Anweisungen, die Stabilität verheißen.

Kampfeslustige Männer und schwärmende Frauen

Häufig gesondert betrachtet werden die Motivationen und Beitrittsgründe ausländischer Kämpfer, deren Anzahl nicht unerheblich ist: Laut Spiegel Online soll der IS Ende 2015 circa 30.000 ausländische Kämpfer in seinen Reihen gehabt haben. Dabei haben diese über das Internet oder den Freundeskreis angeworbenen Menschen vor allem eines gemeinsam: eine falsche Vorstellung von dem, was sie erwartet. Das Kalifat wird ihnen verkauft mit malerischen, paradiesischen Bildern und Versprechungen von Wohlstand und Glück. Gerade junge Männer, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und von Heldentum, Männlichkeitsidealen und Abenteuer fantasieren, können auf diese Darstellungen hereinfallen. Für viele ist der Traum jedoch schon bei der Ankunft schnell zerstört: Statt traumhafter Landschaft erwarten die Kämpfer zerstörte, kahle Städte, statt Heldentum und Abenteuer eintönige Patrouillen- und Wachdienste oder grausames Blutvergießen.

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Nicht selten wird auch die Hilfsbereitschaft einiger Sunniten ausgenutzt, um sie zur Auswanderung zu überzeugen. Mit mitleidserregenden Bildern von leidenden muslimischen Frauen und Kindern wird an die jungen Männer appelliert, der sunnitischen Gemeinde zu helfen. Dabei werden bereits gezielt Ressentiments gegen „den Westen“ oder auch die Schiiten geschürt.

Für viele westliche Beobachter mag es besonders verwunderlich erscheinen, dass auch zunehmend junge Frauen in den IS emigrieren. Unter ihnen befinden sich häufig selbstbewusste Mädchen, die in Familien mit muslimischer Religionsangehörigkeit aufgewachsen sind. Aber was sollte diese Frauen an einem Leben im IS anziehen, wo sie dort doch scheinbar nur Einschränkung und Unterdrückung erwartet? Besonders viel Forschung gibt es zu diesem Thema noch nicht, trotzdem vermuten einige, dass die Mädchen die Geschlechterverhältnisse im IS als gerechter empfinden: In vielen westlichen muslimischen Familien würden Jungen systematisch bevorzugt; der IS unterwirft jedoch beide Geschlechter rigiden Moralvorschriften und sanktioniert Männer wie auch Frauen gnadenlos.

Die Anwerbung der Frauen geschieht ebenfalls oft über das Internet: Nicht selten nehmen sie Kontakt zu anderen Frauen auf, die bereits im Gebiet des IS leben und die von ihrem Leben, der Landschaft und natürlich den ihrer Ansicht nach attraktiven und heldenhaften Kämpfern schwärmen. Mit dem Traum, einen dieser „Löwen“ zu heiraten und bei dem Aufbau einer idealisierten islamischen Welt mitzuwirken, wandern diese jungen Frauen aus. Merken sie nach der Ankunft, dass ihre Vorstellungen nicht erfüllt und auch die Geschlechterverhältnisse alles andere als gerecht sind, ist es meist schon zu spät. Für sie – und auch für die ausländischen Männer, die falsche Vorstellungen vom Kalifat hatten – ist eine Rückkehr so gut wie unmöglich und ein Fluchtversuch endet meistens tödlich.

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[Zur Autorin]

CHRISTINA THOMAS studierte Sozialwissenschaften der Universität Bochum. In ihrer Bachelorarbeit befasste sie sich mit religiösem Fundamentalismus und der Frage, warum Menschen sich fundamentalistischen Gruppen wie beispielsweise dem „Islamischen Staat“ anschließen.

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