„Viele Kurden haben an diesem Tag gezittert“

Mit dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien Ende August ist die Lage in dem seit fünf Jahren andauernden syrischen Bürgerkrieg noch komplizierter geworden. Was im ersten Moment wie der „Kampf gegen den Terror“ klingt, hat in der Realität ernsthafte Konsequenzen für die Minderheiten und das kurdische Projekt einer Autonomen Region in Nordsyrien. Welche das sind und was das für die Zukunft bedeuten könnte, darüber diskutierte der GfbV-Nahostreferent mit einem interessierten Publikum in Göttingen.

von Charlotte Heise; Foto: Kurdishstruggle via Flickr [Symbolbild]

„Viele Kurden haben an diesem Tag gezittert“, erklärt der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Dr. Kamal Sido, vergangenen Donnerstag zu Beginn des Diskussionsabends im Victor-Gollancz-Haus für Menschenrechte in Göttingen. Damit meint er den 24. August dieses Jahres, den Tag, an dem die türkische Armee unter der Billigung der USA in Nordsyrien einmarschierte.

Durch die Invasion der türkischen Armee im vergangenen Monat hat sich die Situation in Nordsyrien erheblich geändert. Die noch vor kurzem in deutschen Geheimdienstdokumenten als „zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens“ bezeichnete Türkei will durch die Offensive die Tore nach Europa für den sogenannten Islamischen Staat (IS) schließen. Dabei kämpft sie an der Seite von sogenannten „moderaten Islamisten“ und erobert zum größten Teil Gebiete, die in den vergangenen Jahren bereits durch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) – angeführt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) – vom IS befreit wurden. Sido, der zuletzt im Frühjahr dieses Jahres in Nordsyrien war, versucht beim Diskussionsabend die komplizierte Lage in der Region und die Rollen der verschiedenen Akteure in dem von ihm als klassischen Stellvertreterkrieg im Nahen Osten betitelten Konflikt einfach zu erklären.

Petra Ensminger vom Deutschlandradio sprach mit dem GfbV-Bundesvorsitzenden Feryad Fazil Omar über den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien.

Es ist kein Geheimnis, dass der Angriff nicht primär der Bekämpfung des IS, sondern der Eindämmung der syrischen Kurden dienen soll. Schließlich waren diese und ihre assyro-aramäischen, arabischen und turkmenischen Verbündete im Kampf gegen den islamistischen Terror in den vergangenen Jahren so erfolgreich, dass sie entlang der türkischen Grenze ein Einflussgebiet von etwa 39.000 Quadratkilometern sichern konnten. „Sie sind die effektivsten Kämpfer gegen den IS und alle anderen Islamisten, sie kämpfen aus Überzeugung“, betont Sido. Hatte Ankara zunächst still gehalten als der IS an der türkischen Grenze ein Gebiet nach dem anderen eroberte, wird nun erstmals direkt in den seit fünf Jahren tobenden Krieg eingegriffen.

Mit der Militäroperation „Schutzschild Euphrat“ richtet sich Ankara direkt gegen Rojava – so der Name des multiethnischen und multireligiösen Projekts des kurdischen Autonomiegebiets. Dort wird unter dem Schutz der SDF, die sich aus Militäreinheiten verschiedenster Ethnien und Religionen zusammensetzt, bereits jetzt Demokratie erprobt. „Natürlich ist es keine Demokratie in unserem Sinn“, räumt Sido ein, „aber sie versuchen etwas aufzubauen.“ Die Kurden verfolgten zusammen mit den anderen Minderheiten in ihrer Autonomieverwaltung säkulare politische Ziele, es herrsche Minderheitenschutz und im Gesellschaftsvertrag Rojavas würden die Einhaltung der Menschenrechte, Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie Religionsfreiheit garantiert. Sido betont, dass bereits hunderttausende Flüchtlinge in diesem Projekt Zuflucht gefunden haben. Doch dieser Zufluchtsort ist nun bedroht.

Die Verwaltung von Rojava basiert auf einem im Nahen Osten einzigartigen Gemeinde-System. Die kommunalen Verwaltungen, die zu mindestens 40 Prozent aus Frauen bestehen müssen, treffen ihre Entscheidungen einstimmig und entscheiden gemeinsam, welcher Repräsentant sie im nächsthöheren Rat vertritt. Diese Struktur zieht sich bis in die Selbstverwaltung von Rojava durch.

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Der Nahostreferent verdeutlicht, dass die humanitäre Lage in den beiden kurdischen Gebieten durch die Belagerung der syrischen Islamisten und die Blockadepolitik der Türkei bereits vor dem türkischen Einmarsch prekär war. Vor allem die westlich gelegene kurdische Enklave Afrin ist von jeglicher humanitärer Hilfe abgeschnitten, da sie nicht mit dem restlichen Gebiet unter kurdischer Verwaltung verbunden ist. „Die geschlossenen Grenzen von der Türkei zu den kurdischen Gebieten sind das größte Problem“, betont Sido. Denn bleibt Afrin weiterhin abgeschnitten und ohne jegliche Unterstützung, sind eine Millionen Menschen auf sich allein gestellt.

„Die Hoffnung war, dass die Kurden die Einkesselung von Afrin durchbrechen. Deswegen sprechen viele Kurden von Verrat“, erklärt Sido.

In den vergangenen Wochen waren die kurdischen Kampfeinheiten westlich des Euphrats in Richtung Afrin vorgestoßen. Die Sicherung eines Korridors, der – so versichert Sido – vor allem ein humanitäres Ziel hatte, wurde durch den Einmarsch der türkischen Armee jedoch unterbunden. Mittlerweile wird die Enklave sogar direkt beschossen. Auf diese Weise steckt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Einflusszonen in Nordsyrien ab und verhindert die Verbindung der beiden von Kurden kontrollierten Gebiete. Sido nimmt an, dass Erdoğan die innerkurdischen Konflikte – wie damals in Irakisch-Kurdistan – weiter anheizen und die Region destabilisieren will.

Beim Diskussionsabend werden ebenfalls die Rollen der anderen Akteure im Konflikt diskutiert. Der antikurdische Autokrat Erdoğan scheint durch die NATO-Mächte USA und Deutschland keinen Gegenwind zu bekommen. Anstatt die demokratischen Bestrebungen der seit 2014 im Kampf gegen den IS verbündeten Kurden zu unterstützen, machte der US-amerikanische Vizepräsident Joe Biden bei seinem Besuch in Ankara Zugeständnisse an Erdoğan und forderte von den verbündeten Kurden, sich aus dem Gebiet westlich des Euphrat zurückzuziehen. Sie sollen den „moderaten“ Islamisten und der türkischen Armee das bereits gewonnene Feld überlassen. Damit machen die USA auf Kosten der kurdischen Minderheit Gutwetter in Ankara: „Die Kurden fühlen sich verraten. Die Türkei darf machen, was sie will und die USA lässt die Kurden im Stich.“

Anfang September demonstrierte die GfbV vor der US-Botschaft in Berlin. Der Wunsch: Die USA sollen die Kurden in Nordsyrien nicht alleine lassen.

Auf die Frage, welche Gruppen an der Seite der türkischen Invasoren kämpfen, antwortet der Nahostreferent: „Alle Gruppen verfolgen das Ziel einen Scharia-Staat zu errichten.“ Es handele sich um enge Verbündete der Al-Nusra Front oder der türkischen „Grauen Wölfe“. Die Angst der Menschen in dem kurdischen Projekt beziehe sich daher nicht nur auf die militärische Bedrohung. Die Zivilbevölkerung erkenne in den Kämpfern der islamistischen Milizen sogar ehemalige IS-Kämpfer.

Auch die Frage nach Baschar al-Assad und seinem Regime bleibt an dem Abend natürlich nicht aus. „Ein totalitäres Regime ist nicht einfach zu reformieren“, macht Sido deutlich. „Das bedeutet, dass es gestürzt werden muss.“ Mit der Militarisierung des friedlichen Aufstandes haben die Verbrechen durch das Regime unter Assad und später auch durch die bewaffneten Gruppen massiv zugenommen. Doch solange es keine Alternative zu dem mörderischen Regime, das seit Jahrzehnten tausende Menschen in den Folterkellern verschwinden lässt, gibt, wird es leider fürs Erste an der Macht bleiben. Der Nahostreferent Sido mahnt dabei jedoch ausdrücklich: „Am Ende darf es keine Straflosigkeit geben!“

Wie wird es in der Zukunft weitergehen?

„Meine Hoffnung ist, dass die Amerikaner die Türkei und Kurden an einen Tisch bringen“, fasst Sido seine Wünsche für die Region zusammen. Da die Amerikaner Verbündete beider Seiten sind, besteht die Chance für die Kurden, einen Platz an einem zukünftigen Verhandlungstisch um die Zukunft Syriens zu erlangen. Der Ernst der Lage für die bedrohten Minderheiten in Nordsyrien wird jedoch deutlich. Es bleibt die Angst der Kurden als nicht mehr geliebter Spielball der verbündeten Weltmächte fallen gelassen zu werden. Es wäre nicht das erste Mal.

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[Zur Autorin]

CHARLOTTE HEISE studiert Evangelische Theologie im 6. Semester an der Georg-August-Universität Göttingen. In ihrem Studium befasst sie sich unter anderem mit der Ökumene und entwickelte dadurch ein Interesse für die religiösen Minderheiten im Nahen Osten.

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