Deutschland –kein sicheres Herkunftsland

Im Oktober 2015 beschloss der Bundestag mit dem neuen Asylgesetz, dass Montenegro, Albanien und der Kosovo als „sichere Herkunftsländer“ gelten. Asylanträge von Menschen mit diesen Nationalitäten werden ohne vorherige Prüfung als „unbegründet“ abgelehnt. Diese Verordnung hat dabei auch weitreichende Konsequenzen für viele Romakinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.

von Kurt Weber; Foto: Bessi via pixabay [Symbolbild]

Sie haben Kinder? Stellen Sie sich vor, unser Staat beschließt, Sie und Ihre Kinder in ein fremdes Land zu verbannen, ein Land, das Ihre Kinder nicht kennen, dessen Sprache sie nicht sprechen, ein Land ohne Ausbildungsmöglichkeiten, in dem man Ihnen und Ihren Kindern gegenüber nicht wohl gesonnen, vielleicht sogar feindselig eingestellt ist. Stellen Sie sich vor, wie es Ihren Kindern in dieser Situation ergehen mag.  Zu Recht werden Sie sagen, diese Fiktion ist absurd, sie ist völlig unmöglich und widerspricht elementarsten Grundrechten. Doch leider ist dies keine reine Fiktion. Jedenfalls kann dieses alptraumhafte Szenario real werden, wenn die Eltern der hier geborenen und aufgewachsenen Kinder keinen deutschen Pass haben und ihr Heimatland vom Bundestag  als „sicher“ definiert wurde. Konkret erleben wir solch grausame Absurdität  in der Abschiebung von Familien mit Kindern und jugendlichen Roma, die in Deutschland geboren wurden, aufwuchsen  und jetzt im Kosovo „entsorgt“ werden (sollen).

Die pauschale Einstufung des Kosovo als „sicheres Herkunftsland“ scheint politisch willkürlich und rechtlich äußerst fragwürdig. Für Roma ist der Kosovo kein „sicheres Herkunftsland“. Das hat die Verfolgung der Minderheiten und die Zerstörung ihrer Häuser und Dörfer in der Vergangenheit gezeigt. Und das ergibt auch der Bericht der GfbV über die heutige Situation von Roma im Kosovo. Die Minderheiten werden diskriminiert, ihre Lebensbedingungen sind katastrophal. Zudem gibt es keine wirksamen sozialen Strukturen, die rückkehrenden Roma helfen könnten, ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben aufzubauen

Für Roma, die in den 1990er Jahren aus dem Kosovo geflohen sind, ist eine Abschiebung in das kleine Land auf dem Balkan berechtigterweise mit großen Ängsten besetzt: In der Vergangenheit gab es im Kosovo schlimmste Verbrechen an der Minderheit: Brandschatzung, Vertreibung, Vergewaltigung, Mord. Selbst von  Organhandel wurde berichtet. Die Täternetzwerke sollen bis in höchste politische Kreise reichen. Mangels Beweises wurden die Verantwortlichen jedoch nie verurteilt.  Zeugen starben unter unnatürlichen und ungeklärten Umständen und verbliebene Zeugen schweigen.  Man kann davon ausgehen, dass der Kosovo auch heute keine „Willkommenskultur“ für die einst Verfolgten anzubieten hat, sondern eher Gegenteiliges.

Die schwerwiegenden Konsequenzen für Romakinder im Falle einer Abschiebung sind von extremer Härte. Doch die Behörend führen weiter Abschiebungen durch. Zeichnung: „Entsorgung“ von Roma-Kindern und Jugendlichen © Kurt Weber

Selbst wenn man annähme, dass die Klassifizierung „sicheres Herkunftsland“ stimme, stellt sich die Frage, für wen der Kosovo ein „sicheres Herkunftsland“ sei. Der gravierende Fehler der Abschiebepolitik unserer Behörden liegt darin, dass der Kosovo gar nicht Herkunftsland der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Romakinder ist. Im Gegensatz zu mancher juristischen Spitzfindigkeit ist ihr Herkunftsland und ihre Heimat als das Land anzusehen, in dem sie geboren wurden, in dem sie aufwuchsen und dessen Sprache sie sprechen: Deutschland. Die aktuelle Abschiebepolitik  macht für diese Kinder ihre Heimat Deutschland zu einem höchst unsicheren Herkunftsland.

Stellt man sich die menschliche Tragweite vor, dann ist die Abschiebung ein ungeheuerlicher Vorgang. Man zwingt die Kinder zum Abbruch ihrer Schul- oder beruflichen Ausbildung. Man reißt sie aus ihrer gesellschaftlichen Umgebung, setzt sie im Kosovo einem verlorenen Dasein ohne jede Chance am Rande einer rassistisch-diskriminierenden Gesellschaft aus. Oder man drängt sie in die Illegalität. Man stößt sie in die Rolle, in der man Roma dem Vorurteil nach gemeinhin erwartet: ohne Bildung, ohne Beruf, darauf angewiesen, ihre Existenz durch niederste Tätigkeiten, Betteln oder gar Kleinkriminalität zu sichern. Mit ihrer Abschiebung schafft man eine verlorene Generation, die wiederum eine verlorene Generation generieren wird. So bestätigt man nicht nur rassistische Vorurteile über Menschen dieser Volksgruppen, sondern baut die Voraussetzungen  solcher Vorurteile weiter aus.

61 Jahre nach dem Ende der Deportationen deutscher Minderheiten – Juden, Roma, Sinti, Schwule etc., Menschen, die in Deutschland geboren wurden und aufwuchsen, deren Muttersprache Deutsch war – , verfrachten unsere Politiker und Behörden heute wieder Menschen, die hier geboren sind, hier aufwuchsen und deren Sprache Deutsch ist. Damit wird eine gesellschaftspolitische Grenze überschritten, die insbesondere in Gedenken an die Deportationen der Nazizeit jedem moralisch Verantwortlichen ein Tabu sein sollte. Ist es da verwunderlich, dass so mancher einfühlsame und historisch bewusste Mitbürger dieses Vorgehen der verantwortlichen Politiker und Behörden als „verbrecherisch“ und alarmierend  bedrohlich empfindet?

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[Zum Autor]

KURT WEBER ist seit Jahrzehnten in der Menschenrechtsarbeit aktiv. Seit 2014 führt er als ehrenamtliches Mitglied des Bundesvorstands die Geschäfte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

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