„Kadyrow ist Putins Achillesferse“ – Ein Abend mit Ilja Jaschin

Vor einem Jahr, im Februar 2015, wurde der bekannte russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow auf offener Straße in Moskau erschossen. Doch seine Freunde und Wegbegleiter führen seine Arbeit bis heute weiter. Einer von ihnen ist Ilja Jaschin, der gestern Abend seinen neuesten Bericht über Tschetschenien und die Auswirkungen auf Russland in Berlin vorgestellt hat.

von Sarah Reinke; Foto: Anton Nossik via Wikimedia Commons

Schnell füllt sich der Raum im Museum im Haus am Check Point Charlie. Die Gäste erwarten Ilja Jaschin, den Wegbegleiter und Freund des im Februar 2015 ermordeten Boris Nemzow. Jaschin hat gerade eine Untersuchung veröffentlicht  über die Regierung in Tschetschenien unter Führung Ramzan Kadyrows. Diesen Bericht, den er „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ titelt, wird er heute vorstellen. Seine Zielgruppe: Gleichgesinnte Landsleute aus Russland. Viele seien in den letzten Jahren ausgewandert, weil sie das System Putin einfach satt hätten. Doch sie sollten in Verbindung mit Russland bleiben. Es sei wichtig, dass diese gleichgesinnten Demokraten hier in Deutschland auch sichtbar blieben, beantwortet er die Frage nach dem Sinn seiner Reise nach Berlin. Und nein, er habe keine Gespräche mit deutschen Politikern geführt. Sie könnten nicht helfen.  Die Russen müssten es schon selbst schaffen, Putin loszuwerden und sich in Richtung Demokratie zu entwickeln. „Doch bitte helfen sie Putin nicht auch noch – solche Gasdeals und sowas, das stört!“ Leider passiert gerade das – aktuell importiert Deutschland sogar mehr Erdgas, Erdöl und Steinkohle aus Russland als 2014 und das Nordstream 2 Projekt, eine Pipeline, in der Gas unter Umgehung der Ukraine und Polens in die EU transportiert werden soll, ist längst nicht vom Tisch. Aber was hat das mit Tschetschenien, mit Kadyrow zu tun? Jaschin zeigt in seinem Bericht die Zusammenhänge und erklärt sie an drei Themen: Korruption, Kadyrows Privatarmee und politische Morde.

85 Prozent des tschetschenischen Haushalts werden aus dem russischen Staatshaushalt finanziert. Trotzdem leben 300.000 Tschetschenen unter der Armutsgrenze. Kadyrow und sein Clan schwimmen in Geld und Luxus. Wie macht er das? Er selbst sagt: Allah hat es gegeben! Korruption trifft es wohl eher.  Wichtigstes Instrument im System der Korruption ist, wie seit langem bekannt, die so genannte Achmad Kadyrow Stiftung. Gelder werden hier eingenommen und verschoben. Zum Beispiel geht das so: Auf dem Gehaltszettel von Beamten sind Prämien ausgezeichnet. Diese fließen direkt an die Stiftung Achmad Kadyrow, niemand sieht das Geld vorher. Schaut man sich die Ausgaben dieser Stiftung an, passiert folgendes: „Der Boxer Mark Tyson kommt nach Grosny, dort darf er Kadyrow verprügeln und bekommt zwei Millionen Euro dafür“ – nach dieser Anekdote sind die Lacher auf Jaschins Seite.

Oppositionaktivist Ilja Jaschin spricht während eines Gedenkmarsches anlässlich des ersten Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow im Zentrum von Moskau am 27. Februar 2016.

Um seine Macht zu erhalten, seine Bevölkerung in Angst und Schrecken zu halten, sich gegenüber Moskau zu behaupten und kritische Fragen nach Korruption zu unterdrücken, unterhält Kadyrow eine Privatarmee. Ungefähr 30.000 Mann unter Waffen bilden Spezialeinheiten, deren Kampfstärke die aller anderen in Russland übertreffe, so Jaschin. Die Männer seien ehemalige Separatisten und Kämpfer, die noch vor kurzem gegen die russische Armee  gekämpft hätten. Sie seien nur Kadyrow gegenüber loyal. Deshalb seien sie eine Gefahr für Russland. Aus vielen Gesprächen mit Flüchtlingen in Deutschland wissen wir, dass auch heute junge Männer in Tschetschenien keine Wahl haben: Entweder sie stellen sich auf die Seite Kadyrows, greifen für ihn zur Waffe, machen sich zu einem Instrument seiner brutalen Herrschaft oder sie „gehen in den Wald“, das heißt wechseln die Seite und kämpfen gegen Kadyrow. Die Flucht ist für manche also der einzige Weg aus diesem Dilemma. Viele dieser Kämpfer Kadyrows hätten im Osten der Ukraine für Russland gekämpft, erklärt Jaschin weiter. Sie haben sich aber auch dem Islamischen Staat in Syrien angeschlossen. Diese Männer seien eine Gefahr für Russland.

Dazu kommen die politischen Morde, die auf Befehl Kadyrows begangen werden. „Ich zweifle keine Minute daran, dass Kadyrow den Mord an Boris Nemzow in Auftrag gegeben hat“, stellt Jaschin fest. Es gäbe eine direkte Befehlskette vom kurz nach der Tat im Februar 2015 festgenommenen Zaur Dadaev über den Kommandeur seiner Einheit „Sever“, Delimchanov, zu dessen Bruder Adam Delimchanov, dem engsten politischen Freund Kadyrows, der in der russischen Duma sitzt und seit dem Mord an einem weiteren Widersacher Kadyrows, Jamadaev, per Interpol Haftbefehl gesucht wird. Als dann schnell klar wurde, dass Kadyrow hinter dem Mord an Nemzow steht, wurden alle Untersuchungen eingestellt, so Jaschin. Eine Aufklärung sei nicht zu erwarten.

Der tschetschnische Präsident Ramzan Kadyrow steht neben dem Portrait seines Vaters, den früheren Präsidenten Tschetscheniens, Achmad Kadyrow. Nach dessen Tod 2004 übernahm der Sohn die Regierungsgeschäfte.

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Für Putin wird Kadyrow immer mehr zum Problem, stellt Jaschin fest. Der Tschetschene sei immer schwerer zu kontrollieren und gleichzeitig gehe er immer eigenmächtiger vor. Putin habe dieses Monster über 15 Jahre gefüttert, ihm Geld und Macht gegeben, doch jetzt sei der Zeitpunkt zu erkennen, dass nur ein Machtwechsel in Tschetschenien auch Russland vor Kadyrow retten könne. Die Möglichkeit hätte Putin: Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung in Tschetschenien hat Putin das politische System in Russland massiv verändert. Beispiel dafür ist, dass die Gouverneure nicht mehr frei gewählt, sondern vom Präsidenten bestimmt werden. Also könnte er auch Kadyrow ersetzen. Doch gerade hat er dessen Amtszeit, die eigentlich am 5. April enden sollte, weiter verlängert. Für seine Sorgen zu Tschetschenien und der Situation in Russland findet Jaschin klare Worte: Die Entwicklung in Tschetschenien nehme jene in der gesamten Russischen Föderation vorweg – und das „möchte ich mir als russischer Patriot nicht in den schlimmsten Albträumen vorstellen“, so Jaschin.

Im Haus am Checkpoint Charlie trat Jaschin als Politiker auf. Für ihn geht es nicht primär um das Schicksal der Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Ein tieferes Verständnis der Situation im Nordkaukasus konnte ich nicht erkennen. Und doch ist es natürlich ein großer Verdienst, dass sich endlich ein führender russischer  Oppositionspolitiker Tschetscheniens annimmt und die Entmachtung Kadyrows zum Ziel hat. Das erfordert in Russland unglaublichen Mut.

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[Zur Autorin]

SARAH REINKE ist Leiterin des GfbV-Büros in Berlin und gleichzeitig Referentin für die GUS-Staaten. Sie verfügt über tiefgreifende Kenntnisse der Lage bedrängter Minderheiten in dieser Region, hält ständig Kontakt zu Betroffenen und gibt ihnen eine Stimme.

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