70 Jahre Kriegsende und das sowjetische Erbe: Aus dem Sieger Russland wird der Besiegte

Am 9. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Während die ganze Welt den Opfern des Krieges gedenkt, stilisiert sich Russland zum alleinigen Sieger. Und beschwört dabei die Geister der Vergangenheit. Ein Kommentar von Alissa Rentowitsch.

von Alissa Rentowitsch; Illustration: Flickr/masha krasnova-shabaeva

Die russische Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsteam beauftragt, das sich (sonst) für die Aufklärung besonders schwerer Verbrechen kümmert. Diesmal geht es jedoch um einen Tanz, den eine Gruppe von Schulmädchen aus Orenburg, einer von Moskau circa 1.200 Kilometer entfernten Stadt, in Bienenkostümen aufgeführt hat. Sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft, sogar der Kinderschutzbeauftragte Pawel Astachow sehen den Tanz als obszön an, die Kindertanzschule soll mit der Verbreitung des Videos gegen ein Gesetz verstoßen haben und wurde vorübergehend geschlossen. Dass die Mädchen auf der Bühne schwarz-orangene Kostüme – also genau die Farben des Sankt-Georgs-Bandes – trugen, wurde ihnen wohl zum Verhängnis. Für die Russen ist das Sankt-Georgs-Band ein Symbol des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Und dieser Sieg, auch nach 70 Jahren eine der moralischen Hauptstützen in Russland, darf niemals verunglimpft werden. Während des Euromajdan wurde das Georgsband zum Beispiel auch von der Gegenbewegung Antimajdan benutzt. Nach der Krim-Annexion und des Beginns der separatistischen Verschwörung im Südosten der Ukraine wurde das Band zum Symbol der Menschen, die eine ukrainische Spaltung befürworten und die Gebiete zu Russland zählen.

»Ich will sagen, dass wir, offensichtlich, … den Krieg wirklich verloren haben.«

Valeriya Novodvorskaya

Der Zweite Weltkrieg ist unter Stalin zu Ende gegangen. Und seine Figur droht nun in einem positiven Licht in Russlands Gegenwart zurückzukehren. Abgeordnete der Kommunistischen Partei der russischen Föderation haben einen Appell an Wladimir Putin vorbereitet mit der Bitte, der Stadt Wolgograd ihren alten Namen Stalingrad zurückzugeben. Einer der zentralsten Plätze Moskaus soll Stalingrad Platz getauft und dort ein Stalin-Denkmal errichtet werden. Die Urheber dieser Ideen streben nach eigener Aussage die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit an. Man wähnt sich zuweilen im falschen Film.

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Das 70-jährige Jubiläum der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, das in Russland als der Tag des Sieges bezeichnet wird, ist ein bedeutendes Ereignis. Dabei ist dieses Datum für Russland weitaus signifikanter als für die ehemaligen Alliierten. De facto war dieser Sieg die einzige ideologische und geistige Stütze der sowjetischen Macht und diese Einstellung wurde auch an ihren selbsternannten Nachfolger, Russland, vererbt. Womit noch könnte die russische Regierung die Bevölkerung des flächengrößten Landes der Erde zusammenschweißen? Außer vielleicht mit der Besetzung der Halbinsel Krim und des Donbas …

Es fällt einem schwer, dieses Ereignis als Sieg zu bezeichnen. Die Verluste in den eigenen Reihen überstiegen die der Besiegten um ein Vielfaches. Die Wirtschaft des Landes, das den Sieg praktisch für sich alleine beansprucht, liegt seit der Nachkriegszeit in Ruinen – bis vor Kurzem hing sie an der Ölnadel, was wegen der negativen Ölpreisentwicklung für die Ökonomie des Landes nun fatale Folgen hat. Die Freiheit hat man sich durch den Sieg nicht erkämpft. Und auch nicht mit dem Sieg in die Welt gebracht. Was man selbst nicht hat, kann man niemandem weitergeben. Natürlich, der Nationalsozialismus wurde besiegt. Das ist die einzige absolute Wahrheit und unbestrittene Errungenschaft für die gesamte Welt. Aber die Tatsache, dass in Russland ausgerechnet der Nationalstolz und die Kartoffelkäfer-Farben Orange und Schwarz, die Flamme und Qualm und damit Stärke in der Schlacht zeigen sollen, die Grundlage jeder Ideologie bildet, macht den Sieger endgültig zum Besiegten.

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Dieser Nationalstolz basiert auf dem Sieg am Ende des Zweiten Weltkrieges. Und Stalin wird zum Nationalhelden erhoben. Die Säuberung der Roten Armee 1941, die es jahrhundertelang so in keinem russischen Staat gegeben hatte, die Millionen Gefangenen, die auf einen Schlag als Verräter denunziert wurden, und liegen gelassene Waffen, für dessen Herstellung das russische Volk ohne Nahrung und Schlaf an den riesigen Baustellen des Sozialismus bis an den Rand ihrer menschlichen Grenzen getrieben wurde, waren alle ein Resultat einer Vierteljahrhundert langen, hirnrissigen Regierung Stalins, die mit der Oktoberrevolution 1917 in Petrograd begann. Auch die Deportationen ganzer Völker – von den Koreanern im Fernen Osten über die Völker des Nordkaukasus, die Krimtataren und Russlanddeutschen bis zu den Kalmücken, bei denen Hunderttausende ihr Leben gelassen haben, wurden 1944 unter Stalin durchgeführt. Aber das verschweigt die Propaganda natürlich. Ganz im Gegenteil: Stalins Name mutiert zum festen Symbol des Sieges. Wieviel zynischer kann das Gedenken an das Ende eines unmenschlichen, diktatorischen Regimes noch sein?

[Zur Autorin]

ALISSA RENTOWITSCH wurde 1979 in Litauen geboren. Sie lebte abwechselnd in der Ukraine, in Litauen und Russland, bevor sie 1994 in die BRD umsiedelte. Sie gibt seit zehn Jahren eine Genusszeitschrift für Deutschland, die Schweiz und Österreich heraus. Seit März 2015 ist sie ehrenamtlich für die Gesellschaft für bedrohte Völker tätig.

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